Produktbeschreibung
»Was Goethe angeht: so war der erste Eindruck, ein sehr früher
Eindruck, vollkommen entscheidend: die Löwen-Novelle, seltsamer
Weise das Erste, was ich von ihm kennen lernte, gab mir ein für
alle Mal meinen Begriff, meinen Geschmack »Goethe«.
Eine verklärt-reine Herbstlichkeit im Genießen und
im Reifwerdenlassen, -im Warten, eine Oktober-Sonne bis ins Geistigste
hinauf; etwas Goldenes und Versüßendes, etwas Mildes,
nicht Marmor - das nenne ich Goethisch.«
Friedrich Nietzsche
Leseprobe
NOVELLE
Ein dichter Herbstnebel verhallte noch in der Frühe die weiten
Räume des fürstlichen Schloßhofes, als man schon
mehr oder weniger durch den sich lichtenden Schleier die ganze
Jägerei zu Pferde und zu Fuß durcheinander bewegt sah.
Die eiligen Beschäftigungen der Nächsten ließen
sich erkennen: man verlängerte, man verkürzte die Steigbügel,
man reichte sich Büchse und Patrontäschchen, man schob
die Dachsranzen zurecht, indes die Hunde ungeduldig am Riemen
den Zurückhaltenden mit fortzuschleppen drohten. Auch hie
und da gebärdete ein Pferd sich mutiger, von feuriger Natur
getrieben oder von dem Sporn des Reiters angeregt, der selbst
hier in der Halbhelle eine gewisse Eitelkeit, sich zu zeigen,
nicht verleugnen konnte. Alle jedoch warteten auf den Fürsten,
der, von seiner jungen Gemahlin Abschied nehmend, allzu lange
zauderte.
Erst vor kurzer Zeit zusammen getraut, empfanden sie schon das
Glück übereinstimmender Gemüter; beide waren von
tätig-lebhaftem Charakter, eines nahm gern an des andern
Neigungen und Bestrebungen Anteil. Des Fürsten Vater hatte
noch den Zeitpunkt erlebt und genutzt, wo es deutlich wurde, daß
alle Staatsglieder in gleicher Betriebsamkeit ihre Tage zubringen,
in gleichem Wirken und Schaffen, jeder nach seiner Art, erst gewinnen
und dann genießen sollten.
Wie sehr dieses gelungen war, ließ sich in diesen 30 Tagen
gewahr werden, als eben der Hauptmarkt sich versammelte, den man
gar wohl eine Messe nennen konnte...
Autoreninfo
Goethe, Johann W von
Johann Wolfgang Goethe (seit 1782: von; 28. 8. 1749 Frankfurt a. M. - 22. 3. 1832 Weimar) hat als Lyriker, Prosa-Autor und Dramatiker Epoche machende Werke des Sturm und Drang und der Klassik mit europaweiter Wirkung verfasst. Von Herzog Karl August von Sachsen-Weimar für den Weimar Hof verpflichtet, wo er u. a. für das Theater zuständig war, prägte er in der Zusammenarbeit mit Schiller besonders die Epoche der Weimarer Klassik. Goethes Interessen erstreckten sich auch auf unterschiedlichste Wissenschaften, zu denen er umfangreiche Schriften beitrug.