Produktbeschreibung
Studienausgabe mit Dokumenten zum zeitgenössischen Literaturstreit
Leseprobe
Auf weißem Zelter sprengte im sonnengolddurchwirkten Walde
Wally, ein Bild, das die Schönheit Aphroditens übertraf,
da sich bei ihm zu jedem klassischen Reize, der nur aus dem cyprischen
Meerschaume geflossen sein konnte, noch alle romantischen Zauber
gesellten: ja selbst die Draperie der modernsten Zeit fehlte nicht,
ein Vorzug, der sich weniger in der Schönheit selbst als
in ihrer Atmosphäre kundzugeben pflegt. Welche natürliche
und ihr doch so vollkommen gegenwärtige Koketterie auf einem
Tiere, von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wußte, daß
es blind war! Wally gab sich das Ansehen, als wäre sie mit
ihrer Situation verschwistert; aber nichts ist so reizend, als
wenn durch irgendeine fast gelungene Affektation, durch die ganze
Haltung eines innerlich mehr reflektierten wie angeborenen Wesens
einige kleine Lichtritzen schimmern und für den Mann, welcher
sie sehen kann, die versteckten Erleichterungen einer sich einbohrenden
Neigung werden. Aber von den zahlreichen Kavalieren, welche Wally
umgaben, sahe diese kleinen Lücken der Furcht edler Weiblichkeit
niemand. Jene, die Lücken der Furcht, kannte vielleicht der
Jockei, der auch wußte, daß die weiße Stute
blind war. Aber die übrigen hingen nur wie der Eisenfellstaub
am Magnet, wie die Nachahmung am Genie, wie das Ordinäre
am Wunderbaren. Am Wege schritt, wie es beim Temperamente sich
von selbst versteht, im Zweivierteltakte Cäsar, ein Mann,
der imstande war, eine solche Gruppe wie die vorbeisprengende
im Nu zu übersehen und jede darin wartende Figur so zu isolieren,
daß er sie alle verarbeitete und an seiner eigenen Individualität
zerrieb.
Autoreninfo
Karl Gutzkow, 17.3.1811 Berlin - 16.12.1878 Sachsenhausen bei Frankfurt a. M. Der Sohn eines Bereiters am preußischen Hof begann mit Hilfe eines Stipendiums 1829 mit dem Studium der Theologie und Philosophie in Berlin, wo er u.a. Friedrich Schleiermacher und Hegel hörte. Unter dem Eindruck der frz. Julirevolution von 1830 wandte er sich dem Journalismus zu: 1831 Gründung der Zeitschrift 'Forum der Journal-Literatur' und Beginn der Mitarbeit an Wolfgang Menzels 'Literaturblatt' in Stuttgart, 1834 Mitarbeiter der Augsburger 'Allgemeinen Zeitung', 1835 Redakteur des Literaturblatts des Frankfurter 'Phönix', 1837-43 Herausgeber des Hamburger 'Telegraphs für Deutschland', 1852 Gründung der erfolgreichen Zeitschrift 'Unterhaltungen am häuslichen Herd' (bis 1862). 1847-49 war G. Dramaturg am Dresdener Hoftheater, von 1855-64 Generalsekretär der Schillerstiftung. 1864 erlitt er einen Nervenzusammenbruch und lebte dann nach einem Aufenthalt in einer Heilanstalt immer mehr vereinsamend u. a. in Vevey am Genfer See, Kesselstadt bei Hanau, Berlin, Heidelberg und schließlich Sachsenhausen. Neben seiner publizistischen und kritischen Arbeit, bei der er sich u. a. auch für G. Büchner einsetzte, schuf er ein umfangreiches erzählerisches und dramatisches Werk.