Produktbeschreibung
Um zu erfahren, wer der Vater ihres ungeborenen Kindes ist, gibt die verwitwete und von ihren Eltern verstoßene Marquise von O. eine Zeitungsannonce auf, in der sie diesen Mann sucht und verspricht, ihn zu heiraten. Auf die Annonce meldet sich Graf F., der die Witwe einige Monate zuvor bei der Belagerung der Stadt vor Vergewaltigungen durch Soldaten bewahrt hatte. Voller Abscheu über die Tat des Grafen weigert sie sich zunächst, sich mit ihm zu vermählen, doch heiratet ihn schließlich unter der Bedingung, dass sie getrennt voneinander leben. Der Graf gibt jedoch nicht auf und wirbt nach einigen Monaten erneut um die Witwe, sodass es schließlich zu einer zweiten, wirklichen Hochzeit kommt. Aufgebaut ist die 1808 erschienene Novelle, die 1976 verfilmt wurde, wie ein Kriminalroman. Erst nach und nach erfährt der Leser die Hintergründe der ungewöhnlichen Zeitungsannonce der Marquise von O., und so bleibt es bis zum Schluss spannend. Zeitgenossen Kleists empfanden das Werk als Skandal, da es eine Vergewaltigung thematisiert. Heute wird es wegen seines sozialkritischen Ansatzes geschätzt, und für viele Leser ist die Novelle ein frühes Beispiel weiblicher Emanzipation, sodass "Die Marquise von O." mittlerweile eines der bekanntesten und meistgelesenen Stücke der Weltliteratur ist.
Leseprobe
In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ
die verwitwete Marquise von O..., eine Dame von vortrefflichem
Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die
Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andere
Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde,
das sie gebären würde, sich melden solle; und daß
sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn
zu heiraten. Die Dame, die einen so sonderbaren, den Spott der
Welt reizenden Schritt, beim Drang unabänderlicher Umstände,
mit solcher Sicherheit tat, war die Tochter des Herrn von G...,
Kommandanten der Zitadelle bei M... Sie hatte, vor ungefähr
drei Jahren, ihren Gemahl, den Marquis von O..., dem sie auf das
innigste und zärtlichste zugetan war, auf einer Reise verloren,
die er, in Geschäften der Familie, nach Paris gemacht hatte.
Auf Frau von G...s, ihrer würdigen Mutter, Wunsch, hatte
sie, nach seinem Tode, den Landsitz verlassen, den sie bisher
bei V.... bewohnt hatte, und war, mit ihren beiden Kindern, in
das Kommandantenhaus, zu ihrem Vater, zurückgekehrt. Hier
hatte sie die nächsten Jahre mit Kunst, Lektüre, mit
Erziehung, und ihrer Eltern Pflege beschäftigt, in der größten
Eingezogenheit zugebracht: bis der... Krieg plötzlich die
Gegend umher mit den Truppen fast aller Mächte und auch mit
russischen erfüllte. Der Obrist von G..., welcher, den Platz
zu verteidigen Order hatte, forderte seine Gemahlin und seine
Tochter auf, sich auf das Landgut, entweder der letzteren, oder
seines Sohnes, das bei V... lag, zurückzuziehen. Doch ehe
sich die Abschätzung noch, hier der Bedrängnisse, denen
man in der Festung, dort der Greuel, denen man auf dem platten
Lande ausgesetzt sein konnte, auf der Waage der weiblichen Überlegung
entschieden hatte: war die Zitadelle von den russischen Truppen
schon berennt, und aufgefordert, sich zu ergeben. Der Obrist
erklärte gegen seine Familie, daß er sich nunmehr verhalten
würde, als ob sie nicht vorhanden wäre; und antwortete
mit Kugeln und Granaten. Der Feind, seinerseits, bombardierte
die Zitadelle. Er steckte die Magazine in Brand, eroberte ein
Außenwerk, und als der Kommandant, nach einer nochmaligen
Aufforderung, mit der Übergabe zauderte, so ordnete er einen
nächtlichen Überfall an, und eroberte die Festung mit
Sturm.
Autoreninfo
Heinrich von Kleist wurde am 18. Oktober 1777 in Frankfurt/Oder geboren. Er schlug zunächst die Offizierslaufbahn ein, begann später sein Studium der Rechtswissenschaften und unternahm Reisen durch Frankreich und die Schweiz. In Dresden gründete er 1808 die Zeitschrift "Phöbus", in der einige seiner Dramen und Erzählungen erschienen. Am 21. November 1811 nahm er sich am Wannsee bei Berlin das Leben.