Produktbeschreibung
Ein Klassiker der japanischen Literatur, der sehr intime Einblicke in das Hofleben des 11. Jahrhunderts gibt und mit allerlei Lebensweisheiten aufwartet.
Leseprobe
Wenn man Hofdame wird
Als ich den kaiserlichen Palast zum ersten Male betrat,
war meine Befangenheit so groß, daß ich beinahe jeden
Augenblick hätte weinen mögen. Die Stunden des Tages
gehörten mir, aber jeden Abend war ich zum Dienst hinter dem dreifüßigen Wandschirm der Kaiserin befohlen.
Die hohe Herrin pflegte dann Bücher und Bilder hervorzuholen und mir zu zeigen. In meiner Schüchternheit
wagte ich nicht einmal, die Hand nach ihnen auszustrecken. Zu jedem Bild wußte sie eine Erklärung: »Dieses
Gemälde hier stellt die und die Begebenheit dar, und dieses hier erzählt eine andere Geschichte.« Im Zimmer
brannten so helle Lampen, daß die Dinge darin noch deutlicher als bei Tage zu erkennen waren, was dazu beitrug,
meine Verwirrung zu erhöhen. Erst ganz allmählich gelang es mir, mich zu sammeln und die Bilder zu betrachten.
Es war damals sehr kalt. Die Hände der Herrin, von
denen ein wenig zu sehen war, wenn sie mir die Bildrollen reichte, waren von lieblicher, mattrosa Farbe. Nie
zuvor hatte ich so wunderbare Hände gesehen, und als ich
sie verstohlen betrachtete, sagte ich leise zu mir: »Nie
hätte ich mir träumen lassen, daß es solche Menschen auf
dieser Erde gibt.«
In der Morgendämmerung wollte ich leise davonhuschen,
aber die Kaiserin rief: »Verweile noch ein wenig, o Gott
von Katsuragi!« (Der Gott von Katsuragi ist so häßlich,
daß er nur nachts auszugehen wagt.) Ich legte mich nieder, wählte aber meine Stellung absichtlich so, daß mein
Gesicht nicht deutlich zu erkennen war. Die Fensterläden
waren noch geschlossen. Als eine Dienerin sie öffnen...
Autoreninfo
Irmtraud Schaarschmidt-Richter studierte ostasiatische Kunstgeschichte, Japanologie und Sinologie in Frankfurt am Main und Heidelberg. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, Kataloge und Beiträge in Fachzeitschriften und Handbüchern, unter anderem zu moderner japanischer Kunst, Schreib- und Gartenkunst. Seit Jahrzehnten ist sie durch ihre Studien vor Ort vor allem auf die Gartenkunst spezialisiert und gilt als Autorität auf diesem Gebiet (Dietrich Seckel). 1991 erhielt sie einen kaiserlich-japanischen Orden, 2002 den Jade-Preis.Sei Shonagon (ca. 966-nach 1010) stammte aus einer literarisch und wissenschaftlich hochbegabten Familie - ihr Vater war ein bekannter Dichter. Mit sechsundzwanzig Jahren trat sie in den Dienst der Kaiserin Sadako und verbrachte ein Jahrzehnt bis zu deren Tod im Hofdienst.