Produktbeschreibung
Auch der zweite Band der neuen Reihe »Anthropologische Psychiatrie« zeigt vorbildlich, wie abhängig gute psychiatrische Forschung und Praxis von der gründlichen Reflexion über unser Menschenbild und von der Weiterentwicklung unserer Kenntnisse über Existenz und Funktionsweise des Menschen ist. Mit Andreas Heinz und Thomas Bock treffen einer der versiertesten deutschen Ordinarien und der »Vater« des Trialogs (ausgehend von den Psychoseseminaren, der ersten trialogischen Veranstaltung) zusammen. Das Ergebnis ist ein vielseitiger Blick auf Psychosen, der neue Handlungsoptionen öffnet. In und durch Psychosen begegnen alle Beteiligten zutiefst menschlichen und uns alle im Kern berührenden Themen. Psychosen konfrontieren uns mit Fremdheit und Fremdwerden, mit dem Verlust von Selbst-Verständlichkeit und mit Irrungen und Wirrungen bei der Sinnsuche. Zugleich gestatten und fordern sie aber auch tiefe Einblicke in unser eigenes Menschsein. Zwei Psychose-Experten ermöglichen mit ihrer philosophisch-anthropologischen Annäherung neue, produktive Zugänge zum Verständnis und zur Therapie von Psychosen. Im Zentrum des Buches steht die Entwicklung eines Krankheits- bzw. eines Gesundheitskonzeptes für psychose-erfahrene Menschen. Ausgehend von einem philosophisch informierten Krankheitsbegriff (»Wie gesund ist krank?«) werden Psychosen als die Krisen besonders sensibler Menschen veranschaulicht. Individuelle, familiäre, gesellschaftliche und kulturelle Aspekte der Erkrankung werden ebenso diskutiert wie der anthropologische Hintergrund von Vulnerabilität und Resilienz. Die Autoren analysieren daraus ableitbare angemessene Versorgungsstrukturen an Beispielen und entwerfen konkrete Behandlungskonzepte und Visionen für Strukturveränderungen in der Psychiatrie.
Inhaltsverzeichnis
12 Einleitung: Spurensuche 12 Kontext des Ringens um Selbstverständlichkeit 15
An welche Traditionen der Anthropologie knüpfen wir an? 18 Wozu nützt der
anthropologische Blick auf Psychosen? 22 Grundsätzliches 22 Wie gesund ist
krank? Die Eigendynamik von Diagnoseschlüsseln 24 25 Wird die Menschheit kränker
oder Krankheit menschlicher? Reduktionismus und soziale Ausgrenzung 27
Stigmatisierung und Selbstbehauptung 29 31 Wie wachsen Sensibilität und
Toleranz? Konsequenzen: ein veränderter Krankheitsbegriff 32 33 Argumente für
einen philosophisch informierten Krankheitsbegriff Seelisches Leid und soziale
Beeinträchtigung 34 Symptome als Ausdruck einer Störung wesentlicher
Funktionsfähigkeiten 36 Menschen stehen immer auch außer sich 38 40 Die Rolle
der Sprache 42 Menschen- und Krankheitsbilder - Fazit 43 Wenn wir um uns selbst
ringen - kulturhistorische Hintergründe 43 Warum ist unsere Identität brüchig?
Zwischen Gemeinschaft und Privatheit - das Ringen um Selbstverständlichkeit 44
Entwicklung und Entwicklungsbrüche der Identität 45 Doppelcharakter der sozialen
Anpassung 47 49 Die Bedeutung von Traumata 51 Das Selbstsystem: Theorien zum
Kern unseres Wesens Selbstrepräsentanzen als Erlebniseinheiten 53 In der Welt
sein 55 Psychotische Veränderungen des personalen Erlebens 56 58 Kohärenz: Was
hält uns zusammen? Kohärenz als Voraussetzung für Resilienz 59 Kohärenz und
Psychose 60 61 Resilienz und Vulnerabilität: Was macht uns (un-)verletzlich? 64
Ambivalenz als typischer Zustand aller Menschen Zu viel oder zu wenig
Ambivalenz? 65 Psychose und 'Inneres Team' 67 69 Von sich absehen, ohne sich zu
verlieren: Theory of Mind Soziale Kognition und Mentalisierungsfähigkeit 69
Ursache oder Wirkung: zu viel oder zu wenig? 71 Kognition und Metakognition 73
Bedeutung von Symbolisierungsprozessen 73 75 Grundformen der Angst Zusammenhang
mit Scham und Wut 78 79 Zur Bedeutung der Scham Die schambesetzte Grenze
zwischen Innen und Außen 80 82 Sinnbedürfnis und -suche Ebenen der Sinnsuche 83
Die Erkundung des Unbewussten 85 Wie archaisch ist das psychotische Erleben? 87
89 Symbolisierung versus Konkretismus 92 Sinnsuche und Genesung 94 Recovery und
Empowerment Empowerment und Gesundheitsförderung 96 98 Balance gewinnen - Fazit
100 Veranschaulichung - die Vielfalt der psychotischen Weltwahrnehmung 100 Wie
lassen sich Psychosen verstehen? Die Realität ist nicht logisch 101
Metaphorisches Sprechen 104 Verzweifelte Hoffnung - im Chaos des Lebens 105
Psychosen - eine konkretistische Schwejkiade? 106 Reizüberflutung und
Verunsicherung 108 Mitwelt und Eigenwelt 109 Transkulturelle Lehren: Respekt
gegenüber 'fremdem' Erleben 110 Entwicklungspsychologischer Bezug 112 Innen- und
Außenwelt 113 Verändertes Weltgefühl 114 115 Inwiefern sind Psychosen zutiefst
menschlich? Verlust bisheriger Selbstverständlichkeiten 115 Empfindlichkeit als
Normalzustand - Psychosen als extreme Dünnhäutigkeit 116 Einheitspsychose oder
individuelle Erfahrung 120 Kognitive und affektive Aspekte 122 'Psychose' als
mehrdeutiger Begriff 123 Krankheitseinsicht oder Gesundheitsbewusstsein 124 125
Anthropologische Aspekte einzelner psychotischer Erfahrungen Stimmenhören - ein
vielschichtiges Phänomen 125 Ich-Störungen und Ich-Stärken 128 Traumparallelen:
Wunsch- und Angstaspekte in psychotischen Wahrnehmungen und Weltkonstruktionen
131 Bedrohung und Bedeutung 132 133 Wahnstimmung - Verlust etablierter
Selbstverständlichkeiten Wahnwahrnehmungen - wenn die Welt voller Geheimnisse
ist 135 Anthropologische Ansätze zum Verständnis psychotischer Bezüge 136 Der
individuell ausgestaltete Wahn - ein Fenster zur Seele 137 Zur Funktionalität
der Wahnbildung 140 Kulturelle Unterschiede in der Wahnbildung 141 142
Negativsymptomatik - Last und Schutz Sozialer Rückzug und körperliche Erstarrung
144 145 Von der multifaktoriellen Bedingtheit zum Handeln in großer Not 148
Veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit Veränderung des Zeiterlebens 148 'Die
Verwandlung' - Körperwahrnehmung in Psychosen 150 152 Phänomen statt Symptom 155
Auf der Suche nach dem Sinn meiner Psychose Gastbeitrag von Gwen Schulz Leblos
im Grauen - man nannte das läppisch 156 Die Stimmen kamen, als ich Fragen
stellen konnte 157 Die Psychiatrie hat meine Angst vergrößert 158 Ich fühlte
mich als Mensch akzeptiert 159 Zwei Wesen erweitern mich 159 Arbeit kann heilen
160 Man kann mit der Erfahrung aufstehen 161 Nur zu sagen, die Symptome müssten
weg, ist seelenlos 161 Den anderen im Boot lassen 162 Deutlich machen, dass
etwas ganz und gar nicht stimmt 163 Gegenkräfte wachsen in gemeinsamer
Verantwortung 163 165 Zum subjektiven Verständnis von Psychosen Zehn Thesen von
Dorothea Buck 166 Verschiedenheit respektieren - Fazit 168
Entstehungsbedingungen: Wie werden wir psychotisch? 168 Kann jeder Mensch
psychotisch werden? 170 Zusammenspiel von Genetik und Umwelteinflüssen 172
Treten Psychosen überall gleich häufig auf? 174 Spezifische
Migrationsbelastungen und ihr Ausdruck in psychotischen Symptomen 178
Lebenskrisen als alltägliche Ereignisse 179 Gesellschaftliche und politische
Aspekte 180 Familiäre und systemische Entstehungsbedingungen Die
Mehrgenerationenhypothese 182 Umgang mit diversen familiären Konstellationen 183
Familie als Schutzraum und als Ort existenzieller Auseinandersetzungen 184 185
'Arme Irre'? Sozioökonomische Aspekte von Psychosen Der Zusammenbruch des
'falschen Selbst' 186 Widersprüchliche gesellschaftliche Botschaften 187 188
Soziale Stressfaktoren und ihre Auswirkung auf das Gehirn Das
Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs-Modell 189 Welche psychotischen Symptome
lassen sich neurobiologisch erklären? 192 Traumatische Verletzung und erhöhtes
Rauschen - ein beispielhafter Zusammenhang 194 Wahnbildung und Exzentrik 196
Konsequenzen für das Verständnis der Psychosen 197 198 Jede Psychose ist anders:
die narrative Perspektive Narration und Resilienz 200 'Naturgeschichten' von
Psychosen 202 204 Wider die Eindimensionalität - Fazit 206 Therapeutische
Handlungskonsequenzen: Menschen gerecht werden 206 Wahrnehmen, wundern, würdigen
- die Basis aller Therapie Grenzen der Empathie? Probleme des Zugangs zu
Psychosen 208 Eigene Wünsche - Zugang zum inneren Erleben einer Psychose 211
Mitfühlen und Dabeisein 212 214 Balance von Autonomie und Bindung 216 Primat der
Beziehung Lernprozesse der psychotherapeutischen Schulen 218 Wenn Fühlen, Denken
und Handeln auseinanderfallen: zur Notwendigkeit schulenübergreifender Ansätze
219 221 Sinnsuche, Aneignung und Genesung 223 Das Dabeisein und die Konstruktion
des subjektiven Sinns 226 Wirkungen und Nebenwirkungen der Therapien Wie helfen
Neuroleptika und wann helfen sie nicht? 226 Subjektive Erfahrungen mit
Neuroleptika ernst nehmen 229 230 Die Problematik der Zwangsbehandlung
Einsichtsfähigkeit und Gefährdungspotenzial 232 Einzelfallentscheidungen 233
Subjektives Erleben von Zwang 234 UN-Behindertenrechtskonvention: eine neue
Qualität des Diskurses 235 237 Umgang mit Eigensinn - Konflikte um
Krankheitseinsicht und Compliance Eigensinn versus Compliance 238 Ringen um
Kooperation 239 Die Bedeutung der Erfahrungen aus unbehandelten Psychosen 240
242 Von Selbsthilfe lernen - das Netzwerk Stimmenhören Von der Verunsicherung
zur Bedeutung 242 Der Übergang zur Erkrankung ist kontextabhängig 243 245 Zur
Bedeutung der Peerarbeit Besondere Chancen der Peerarbeit 246 Gastbeitrag von
Gwen Schulz 251 Von Shared Decision zu Open dialogue Partizipation in der
psychiatrischen Versorgung 252 Shared Decision - reicht das? 253 Offene,
personenzentrierte Gespräche als Basis der Therapie 254 Notwendige
therapeutische Bescheidenheit 256 Das Aushalten von Ambivalenzen 257 262
Haltende Beziehung - ein Fazit 264 Nötige Strukturveränderungen im
psychiatrischen Hilfesystem 264 Psychiatriereform auf halbem Weg - Ausgangslage
in einem gespaltenen Hilfesystem Hilfe nach Bedarf oder nach Zufall und
Geldbeutel? 266 Benachteiligung besonders Bedürftiger 267 267 Soteria und Home
Treatment - Behandlung im angstfreien Raum? Offene Türen 268 Soteria -
modellhafte Millieutherapie 269 Home Treatment - Probleme des Entgeltsystems 270
272 Kontinuität und Flexibilität: die Idee der Integrierten Versorgung Das
Regionale Budget 272 Und sie bewegt sich doch - Integrierte Versorgung in der
Großstadt 272 Gemeindenahe Verantwortung und ihr Risiko 273 Integrierte
Versorgung integrieren! 274 275 Sozialraum ist Bedeutungsraum 277 Interaktive
Elemente einer anthropologisch ausgerichteten Psychiatrie 280 Jenseits der
Mauern: Elemente einer künftigen Psychiatrie - ein Fazit ?283 Ausblick 283
Dilemmata der Psychosenbehandlung und ihre Potenziale Herausforderung
Personenzentrierung 283 Herausforderung der Prävention und das Dilemma der
Früherkennung 284 Herausforderung und Dilemma der Diagnostik 286 Herausforderung
Selbst- und Fremdstigmatisierung 287 Herausforderung Eigensinn und
Niedrigschwelligkeit 288 Herausforderung Home Treatment 289 Herausforderung
Spezialisierung 290 291 Individualisiert - personenzentriert - einzigartig Eine
'individualisierte' Psychiatrie 291 Personenzentrierung ist mehr als
individualisierte Medikation 293 In sich und außer sich - die doppelte
Positionalität des Menschen 295 297 Brüchige Vielfalt - die Notwendigkeit von
Metaphern Pionierreise in eine unbekannte Welt 298 Das Recht darauf,
Doppelgänger meiner selbst zu sein 299 301 Merkmale und Konsequenzen einer
anthropologischen Psychiatrie - Schlussbemerkungen 307 Danksagung 308 Literatur
Autoreninfo
Thomas Bock ist Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychiatrie, Psychologischer Psychotherapeut, seit 40 Jahren am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Autor von Fach- und Kinderbüchern. Er hat mit Dorothea Buck die Psychoseseminare und weitere trialogische Projekte gegründet und Auszeichnungen für Versorgung, Lehre und Forschung bekommen.Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum der Charit‚, Berlin.