Produktbeschreibung
Diese "Erzgebirgischen Dorfgeschichten" stammen (mit Ausnahme von "Sonnenscheinchen") aus Mays frühester Schaffenszeit. Er zeigt sich hier von ungewohnter Seite: In heimischer Landschaft ereignen sich Konflikte, deren Schilderung an Spannung den exotischen Erzählungen in nichts nachsteht. Der Band enthält folgende Erzählungen: 1.) Sonnenscheinchen; 2.) Des Kindes Ruf; 3.) Der Grenzmeister; 4.) Der Teufelsbauer; 5.) Der Bonapartenschuster; 6.) Der Giftheiner; 7.) Der Geldmarder; 8.) Die Rose von Ernstthal; 9.) Anhang: Der Samiel (im Faksimile). Die vorliegenden Erzählungen spielen etwa um 1860. Der Titel ist als Buch, Hörbuch und ebook erhältlich!
Leseprobe
Sonnenscheinchen
Der Herr Major fuhr durch das Dorf. Die Frau Major saß
neben ihm. Und auch das Majörle war dabei, das kleine.
Man kannte den Herrn Major im ganzen Ort, und jedermann, einen
einzigen ausgenommen, hatte ihn lieb. Er gehörte zu jenen
im Dienst unnachsichtig strengen Offizieren, die aber, sobald
sie den Zivilrock tragen, gegen alle Menschen mild und freundlich
sind. Und heut war er in Zivil! Der weiche Felbelhut saß
ihm hinten im Nacken, so daß das braune Gesicht mit der
hohen Stirn, unter der die hellen Augen nach allen Seiten lachten,
ganz zu sehen war.
Die Frau Major war eine schöne, schlanke, aber blasse Frau.
Den Schleier hatte sie trotz des Sonnenscheins, der rundum licht
auf den Fluren lag, zurückgeschlagen, um die gesunde, reine
Bergluft frei einatmen zu können. Ihre Augen hatten fast
die Farbe der Veilchen, die sich schon hier und da im Gras sonnten;
sie schaute so sinnend, so eigentümlich träumerisch
in die Welt hinein. Was für Augen waren das wohl? Diese
Frage wußte der Herr Lehrer am besten zu beantworten. Er
war in den vorigen Ferien in der Hauptstadt gewesen und hatte
bei Majors mitspeisen dürfen. Da hatte er mit der Frau viel
gesprochen und dann nach seiner Rückkehr im Dorf berichtet:
"Sie ist hochgebildet und sehr ideal; darum faßt sie
alles von der poetischen Seite auf. ja, sie macht sogar Gedichte!"
Das Majörle, das im Wagen rückwärts saß,
war nicht in Zivil. Seine elfjährige Gestalt steckte in
der schönen, bunten Uniform, die ihm zu Weihnachten vom Christkindlein
beschert worden war.
Autoreninfo
Karl May (1842-1912) war das fünfte von 14 Kindern einer armen Weberfamilie aus Ernstthal/Sachsen. Vom Studium am Lehrerseminar wurde er zunächst ausgeschlossen, nachdem er Kerzenreste unterschlagen hatte. Später konnte er die Ausbildung fortsetzen, arbeitete nur 14 Tage in seinem Beruf, bevor er wieder des Diebstahls bezichtigt und von der Liste der Kandidaten gestrichen wurde. Wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapelei wurde er in den Jahren darauf immer wieder verhaftet und monatelang festgesetzt. Die Jahre zwischen 1870 und 1874 verbrachte er im Zuchthaus Waldheim. Erst viele Jahre nach dem Erscheinen des akribisch recherchierten Orientzyklus reiste Karl May tatsächlich in den Orient. Karl May war lange Zeit einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller. Er starb1912 in Radebeul.