Produktbeschreibung
Ereignisse aus dem vorigen Band zeigen ihre tiefere Bedeutung; in einem langen Nachtgespräch halten der "Ustad" (der Meister der Dschamikun) und Kara Ben Nemsi innere Einkehr. Es ist Karl Mays eigene Persönlichkeit, die in diesem Spätwerk im ernsten Ringen mit sich selbst liegt. "Das versteinerte Gebet" ist der zweite und letzte Teil der Reihe "Im Schatten des Ahriman". Erster Teil: "Im Reiche des silbernen Löwen" (Band 28). Im weiteren Sinne bilden die Bände 28 und 29 die Fortsetzung der Bände 26 und 27, sind jedoch zugleich ein autobiografischer Schlüsselroman, entstanden aus Mays Eindrücken seiner großen Orientreise 1899/1900. Der ursprl. Titel der ehemals vierteiligen Reiseerzählung lautete "Im Reiche des silbernen Löwen I-IV". Der Titel ist auch als ebook erhältlich.
Leseprobe
In der Gruft
Grabesnähe
Es war eine eigenartige Stimmung, in der ich mich befand, als
mich der Ustad hinauf nach der mir zugedachten Wohnung führte.
Es war nicht Spannung, noch viel weniger Neugierde. Ich hatte
das Gefühl, als ob eine schon längst in mir lebende
und doch niemals ganz in das Bewußtsein getretene Sehnsucht
nun in Erfüllung gehen werde, als ob mir ein Glück bevorstehe,
auf das ich schon längst, aber ohne mein Wissen, vorbereitet
worden sei. Warum war ich dabei so ernst, als ob auf jeder der
Stufen, die wir emporstiegen, eine Gestalt aus vergangenen Tagen
stehe und stumm mahnend die Hand erhebe?
Als wir oben vor der Wohnung des Ustad angekommen waren, sah ich
eine zweite Treppe. Auf ihrer Biegung stand ein brennendes Licht.
Er zeigte hinauf und sagte:
"Du wirst da über mir wohnen. Und doch so tief, so tief,
wie ich heut nicht mehr wohnen möchte!"
Ich sah ihn fragend an. Da legte er mir die Hand auf die Schulter
und fuhr fort:
"Effendi, fürchtest du dich vor Gespenstern?"
"Nein", antwortete ich.
"Oder vor Gräbern?"
"Nein."
"So geh hinauf und schau dich um! Ich lasse dich für
kurze Zeit allein, komme dir aber dann nach oben nach. Ich könnte
wohl noch besser sagen: nach unten, denn, mein Freund, du wirst
bei Leichen wohnen. Du bist der erste und gewiß auch der
letzte, also der einzige, der jene Gruft betreten darf, die ich
den Verstorbenen aus den verflossenen Tagen meines Lebens baute.
Ich spreche in dunklen Worten; aber grad dieses Dunkel werde dir
zum Licht! Das ist mein Herzenswunsch!"
Autoreninfo
Karl May (1842-1912) war das fünfte von 14 Kindern einer armen Weberfamilie aus Ernstthal/Sachsen. Vom Studium am Lehrerseminar wurde er zunächst ausgeschlossen, nachdem er Kerzenreste unterschlagen hatte. Später konnte er die Ausbildung fortsetzen, arbeitete nur 14 Tage in seinem Beruf, bevor er wieder des Diebstahls bezichtigt und von der Liste der Kandidaten gestrichen wurde. Wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapelei wurde er in den Jahren darauf immer wieder verhaftet und monatelang festgesetzt. Die Jahre zwischen 1870 und 1874 verbrachte er im Zuchthaus Waldheim. Erst viele Jahre nach dem Erscheinen des akribisch recherchierten Orientzyklus reiste Karl May tatsächlich in den Orient. Karl May war lange Zeit einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller. Er starb1912 in Radebeul.