Leseprobe
Apologie des Sokrates
Welche Wirkung, Männer von Athen, meine Ankläger auf
euch ausgeübt haben, weiß ich nicht. Denn ich selbst
hätte unter ihrem Eindruck beinahe mich selbst vergessen,
so bestechend sprachen sie. Indes, die Wahrheit haben sie eigentlich
keinen Augenblick gesagt. Doch am meisten hat mich von all den
Lügen, die sie vorbrachten, die in Erstaunen versetzt, daß
sie meinten, ihr solltet euch in acht nehmen und euch nicht von
mir täuschen lassen: ich sei ein gefährlicher Redner.
Denn sich nicht zu schämen, daß sie sofort durch die
Tatsachen von mir widerlegt werden - wenn sich nämlich herausstellt,
daß ich nicht ein bißchen gefährlich bin -, das
schien mir ihre größte Unverschämtheit zu sein,
es sei denn, sie nennen den einen gefährlichen Redner, der
die Wahrheit sagt. Denn wenn sie das meinen, dann bin ich bereit,
zuzugeben, daß ich - wenn auch nicht nach ihren Begriffen
- ein Meister der Rede bin.
Sie haben also, wie ich meine, so gut wie kein wahres Wort gesagt,
von mir aber bekommt ihr jetzt die ganze Wahrheit zu hören
- nicht, bei Gott, ihr Männer von Athen, mit schönen
Reden, die, wie die von denen dort, mit kunstvoll gedrechselten
Worten und Wendungen aufwarten; ihr bekommt vielmehr zu hören,
was mir gerade einfällt, in ungesuchten Ausdrücken (ich
bin nämlich überzeugt, daß ich in der Sache recht
habe), und niemand von euch möge etwas anderes von mir erwarten.
Es nähme sich ja auch seltsam aus, Männer, wenn jemand
in meinem Alter, als wäre er ein Knabe, mit Künsteleien
vor euch träte.
Denn allerdings, ihr Männer von Athen, das möchte ich
mit mit Nachdruck ausbitten: wenn ihr hört, daß ich
mich mit ähnlichen Ausdrücken verteidige, wie ich sie
auf dem Markt bei den Wechslertischen (wo viele von euch mir zugehört
haben) oder sonstwo zu gebrauchen pflege,....
Autoreninfo
Platon, 427-347 v. Chr., stammte aus adeligem Geschlecht und zählt zu den bedeutendsten griechischen Philosophen. Er war entscheidend von seinem Lehrer Sokrates geprägt. Nach dessen Tod begab er sich auf Reisen, doch scheiterten seine Hoffnungen, in Syrakus sein Staatsideal zu verwirklichen. Nach seiner Rückkehr gründete er in Athen seine Philosophenschule, die Akademie.