Produktbeschreibung
Gottfried Benns Reden und Essays zeigen mit rhetorischer Meisterschaft die Autorität des großen Dichters. Wie er als Poet bedingungslos Ausdruck schuf, so zieht er auch hier mit der ihm eigenen sprachlichen Kraft Grenzlinien, setzt Marksteine des Zeitbewußtseins, bestimmt die Positionen des Geistes im Endstadium seiner abendländischen Krise. Rücksichtslos spricht Benn als Kulturkritiker, als Verächter des Betriebs, als Gegner aller Restaurationen, scharf geht er mit der Geschichte ins Gericht, setzt dagegen als ästhetisches Manifest das Gesetz der Form. Der Sinnlosigkeit von Geschichte stellt er die Kunst entgegen, einen Kunstbegriff, der noch einmal verankert ist in metaphysischen Tiefen, verwurzelt in jenem unerschütterlichen Glauben, daß nur als ästhetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigt. Nietzsche, das große Vorbild, spricht aus den Essays und Reden als ein Verwandelter, Verwandter, ein Angeeigneter. Noch einmal ertönt die Grundmusik des europäischen Nihilismus, ein letztes Mal, als Tragik und als Glücksgefühl. Gedanklich stehen Dichtung und diskursives Sprechen sich immer nahe in diesen Essays und Reden, die vom Kern her philosophisch und poetisch konzipiert sind. Gerichtet gegen Logik und Deduktion zielt die Beschwörung dieser Sprache auf Autarkie, nicht auf Überzeugung, schon gar nicht auf Überredung. Die Biographie Gottfried Benns im Anhang gibt dem Leser Einblick in den äußeren und inneren Verlauf seines Lebens.
Inhaltsverzeichnis
Essays:Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie (1910)
Zur Geschichte der Naturwissenschaften (1911)
Medizinische Psychologie (1911)
Das moderne Ich (1920)
Paris (1925)
Medizinische Krise (1926)
Wie Miss Cavell erschossen wurde (1928)
"Dein Körper gehört dir" (1928)
Frankreich und Wir (1930)
Zur Problematik des Dichterischen (1930)
Können Dichter die Welt ändern? (1930)
Genie und Gesundheit (1930)
Der Aufbau der Persönlichkeit (1930)
Fazit der Perspektiven (1930)
Das Genieproblem (1930)
Heinrich Mann (1931) (Heinrich Mann zum sechzigsten Geburtstag)
Irrationalismus und moderne Medizin (1931)
Goethe und die Naturwissenschaften (1932)
Der Nihilismus - und seine Überwindung (1932)
Gebührt Carleton ein Denkmal? (1932)
Nach dem Nihilismus (1932)
Deutscher Arbeit zur Ehre (1933) (Die Eigengesetzlichkeit der Kunst)
Züchtung (1933) - (Züchtung I)
Der deutsche Mensch (1933)
Geist und Seele künftiger Geschlechter (1933)
Bekenntnis zum Expressionismus (1933) (Expressionismus)
"Die Dichtung braucht inneren Spielraum" (1934)
Der Krieger und die Statue (1934) (Vorwort zu Kunst und Macht)
Dorische Welt (1934)
Sein und Werden (1935)
Strömungen (1936)
Franzosen (1940)
Züchtung (1940) - (Züchtung II)
Kunst und Drittes Reich (1941)
Zum Thema: Geschichte (1942)
Provoziertes Leben (1943)
Pallas (1943)
Bezugssysteme (1943)
Pessimismus (1943)
Physik 1943 (1943)
Das Zeitalter der Angst (1951) (Einleitung zu W. H. Auden, Das Zeitalter der Angst)
Einleitung zu Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955)
Reden:Totenrede für Klabund (1928)
Rede auf Heinrich Mann (1931)
Die neue literarische Saison (1931)
Akademie-Rede (1932)
Der neue Staat und die Intellektuellen (1933)
Totenrede auf Max von Schillings (1933)
Zucht und Zukunft (1933)
Rede auf Stefan George (1934)
Gruß an Marinetti (1934) - (Rede auf Marinetti)
Nietzsche nach 50 Jahren (1950)
Probleme der Lyrik (1951)
Büchner-Preis-Rede (1951) (Rede in Darmstadt)
Erinnerungen an Else Lasker-Schüler (1952) (Rede auf Else Lasker-Schüler)
L'Apport de la Po‚sie Allemande du Demi-SiŠcle (1952) (Vortrag in Knokke)
Einleitung zu einem Rezitationsabend im Kolbe-Museum (1953) (Rede im Kolbe-Museum)Rede zur Verleihung des internationalen Literaturpreises des Europäischen Kulturzentrums in Genf (1953) (Ansprache bei der Verleihung des Europäischen Literaturpreises)Altern als Problem für Künstler (1954)
Berlin zwischen Ost und West (1955)
Soll die Dichtung das Leben bessern? (1955)
Gottfried Benn
Reinhold Schneider
Anhang
von Bruno Hillebrand Editorischer Bericht
Anmerkungen
Biographie
Bruno Hillebrand: Zum essayistischen Werk von Gottfried Benn
Alphabetisches Verzeichnis der Essays und Reden
Leseprobe
Meine Herren Kollegen, die Sie jetzt Medizin studieren wollen,
Kommilitonen, die Sie sich anschicken, die naturwissenschaftlichen
Fächer zu beforschen, junge Leute, die Teubners »Aus
Natur und Geisteswelt« in ihren Freistunden ergriffen lesen
und die kleinen Göschenbücher, meine Damen und Herren
und alle Jugend, die antritt, in Laboratorien und Instituten,
die Binde von Sais zu lüften, ich will Mißtrauen säen
in Ihre Herzen gegen Ihrer Lehrer Wort und Werk, Verachtung gegen
das Geschwätz vollbärtiger Fünfziger, deren Wort
der Staat lohnt und schützt, und Ekel vor einem Handwerk,
das nie an eine Schöpfung glaubte.
Einige von Ihnen tragen ein Glasauge, einige den Arm verbunden,
fast alle waren im Krieg. Nach Schlammjahren, nach Ypernjahren,
nach Kinoabenden hinter der Front einmal in sechs Monaten, nach
Nächten, wo Ihnen die Ratten den Fettfleck aus der Jacke
fraßen und aus den Mundwinkeln den Krümel Brot, stehen
Sie da und beben, was der Geist für Sie ersparte. Es ist
mit Ihnen so, daß Sie am Abgrund stehn, wie Psyche in jenem
Märchen, von Eltern und Freunden auf Befehl eines Orakels
wie zum Tode im Leichenschmuck auf einen hohen Berg geführt
und am Abgrund verlassen, ob der Gott sie entführe - der
Gott wird kommen, wenn Sie wissen werden, wen Sie rufen sollen.
Aber wenn man Ihnen einen Knochen in die Hand gibt und eine Brille
vor die Augen, wenn man Sie in Räume führt, wo es so
sachlich nach Jod und Alkohol riecht, wenn dann ein Glatzkopf
hinter den Ladentisch tritt und »auf, auf, junge Freunde«
ruft und das Ding; in sich und den Schleier der Maja, so bemörsern
Sie diese kaufmännischen Vertreter, unter dem Hinweis, daß
es galt, alljährlich der Maja zu opfern eine trächtige
Sau, denn die Ferkel, die dieser Ihnen werfen wird, sind Sülze
und seine Wahrheit ein Fakultätsbeschluß.
Autoreninfo
Gottfried Benn wurde am 2.5.1886 in Mansfeld geboren. Mit seinen 'Morgue'-Gedichten (1912) revolutionierte Benn die moderne Lyrik. Seit 1917 arbeitete er als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler verteidigte Benn öffentlich den Nationalsozialismus. Dennoch wurde er 1938 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhielt Schreibverbot. 1951 erhielt Benn den Georg-Büchner-Preis. Am 7. Juli 1956 starb Gottfried Benn in Berlin.