Produktbeschreibung
Kann ein gut geschriebenes Buch, das widernatürliche moralische
Ansichten verficht, trotzdem ein gutes Buch sein?« - »Kein
Kunstwerk verficht Ansichten. Ansichten haben Leute, die keine
Künstler sind.« »Ein perverser Roman kann ein gutes
Buch sein?« - »Ich weiß nicht, was Sie mit »perverser
Roman« meinen.« »Dann behaupte ich, daß Dorian
Gray zu eben dieser Deutung Anlaß gibt.«
Aus dem Protokoll des Prozesses gegen Oscar Wilde.
Inhaltsverzeichnis
Das Bildnis des Dorian Gray AnmerkungenNachwort von Ulrich Horstmann
Leseprobe
Das Atelier war von intensivem Rosenduft erfüllt, und wenn
der sanfte Sommerwind durch die Bäume des Gartens strich,
strömte das schwere Aroma des Flieders oder der zartere Hauch
des blühenden Rotdorns zur offenen Tür herein.
Von der Ecke des Diwans aus persischen Satteltaschen, auf dem
er es sich bequem gemacht hatte und, seiner Gewohnheit frönend,
unzählige Zigaretten rauchte, konnte Lord Henry Wotton gerade
noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbenen
Blüten eines Goldregens sehen, dessen zitternde Zweige kaum
imstande schienen, die Last ihrer flammengleichen Schönheit
zu tragen; dann und wann huschten die phantastischen Schatten
vorbeifliegender Vögel über die langen Vorhänge
aus Tussahseide, die vor das riesige Fenster gezogen waren, ließen
dabei für einen Augenblick eine Art japanischen Effekt entstehen
und erinnerten ihn an die blassen, jadegesichtigen Maler Tokios,
die mit den Mitteln einer zwangsläufig bewegungslosen Kunst
den Eindruck von Schnelligkeit und Bewegung zu erwecken trachten.
Das träge Summen der Bienen, die sich ihren Weg durch das
hohe, ungemähte Gras suchten oder mit monotoner Beharrlichkeit
um die mit Blütenstaub gefällten goldgelben Kelche des
wuchernden Geißblatts kreisten, ließen die Stille
noch bedruckender erscheinen. Das dumpfe Dröhnen Londons
glich dem ständig mitklingenden Baßton einer fernen
Orgel.
In der Mitte des Raumes stand, an einer hohen Staffelei befestigt,
das lebensgroße Porträt eines jungen Mannes von außergewöhnlicher
Schönheit, und davor saß, in geringer Entfernung, der
Künstler selbst, ...
Autoreninfo
Oscar Wilde wurde 1854 in Dublin geboren. Wilde studierte erst am Trinity College in Dublin, dann in Oxford, wo er sich mehr und mehr einem Ästhetizismus zuwandte, den er nicht nur in der Kunst, sondern auch im Leben zum Maß aller Dinge machte. 1884 heiratete er in London; zwei Söhne wurden geboren. In den folgenden Jahren entfremdete er sich zunehmend von seiner Frau und wurde sich wohl seiner homoerotischen Neigungen deutlicher bewußt. Gleichzeitig nahm sein Ruhm stetig zu; in rascher Folge entstanden Essays, sein einziger Roman "Das Bildnis des Dorian Gray", die Märchen, Erzählungen und mehrere Theaterstücke.
1895 wurde er wegen seiner Liebesbeziehung zum jungen Lord Alfred Douglas in einen Prozeß mit dessen Vater verwickelt, der ihm zum Verhängnis wurde: Wilde wurde zu Zwangsarbeit verurteilt und war nun gesellschaftlich, aber auch künstlerisch erledigt. 1897 aus seiner Einzelzelle entlassen, floh er nach Frankreich, unternahm noch einige Reisen und starb 1900 resigniert in Paris.