Produktbeschreibung
»Alle Möglichkeiten lagen in dem Spielraum der Fesselung«
In ihren zwischen 1948 und 1952 entstandenen frühen Erzählungen - unter ihnen die berühmte >Spiegelgeschichte<, die den Preis der Gruppe 47 erhielt - richtet sich Ilse Aichinger radikal gegen das Verdrängen von Tod und Krieg in der »Wiederaufbau«-Zeit. Sie stellt die Erfolgsideologie dieser Zeit auf den Kopf mit der Behauptung, einzig durch das Bewusstmachen von Bedrohung, Vernichtung und von Abschied werde ein intensives Erleben der Gegenwart möglich. »Gleichsam vom Rücken der Dinge und der Schicksale her ist Ilse Aichinger an ihr Erzählen gegangen, mit einem Mut, der träumerischer Protest, der Revolte war gegenüber dem dingfesten Leben« (Karl Krolow).
Zusammenfassung
"Die hellsten Felder wachsen aus dem Abschied, die tiefsten
Wälder treiben aus dem Galgenholz" - mit solchen Sätzen
lehnt sich Ilse Aichinger in ihren zwischen 1948 und 1952 entstandenen
frühen Erzählungen auf gegen das Verdrängen von
Tod und Krieg in der "Wiederaufbau"-Zeit. Sie stellt
die Erfolgsideologie auf den Kopf mit der Behauptung, einzig durch
das Bewußtmachen von Bedrohung, Vernichtung und von Abschied
werde ein intensives Erleben der Gegenwart möglich. Alles
andere wird entlarvt: Der Soldatenalltag in seiner Absurdität
und Brutalität (Die geöffnete Order), die Werbung, die
Lähmung im Nachkriegsalltag (Das Plakat), die erneuten Denunziationen
(Das Fenster-Theater). Mit der Spiegelgeschichte jene Erzählung,
durch welche Ilse Aichinger nach dem Preis der Gruppe 47 (1952)
berühmt geworden ist - widersetzt sich die Autorin den weithin
akzeptierten Tendenzen: Es ist die Geschichte einer jungen Frau,
die - nach einer mißlungenen Abtreibung - im Augenblick
des Todes ihr Leben zurückläuft, an entscheidenden Punkten
verändert. Die Kraft zu solcher Veränderung und eine
extrem gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit kommen hier aus
dem Bewußtwerden des Abschieds" des Endes, des Todes:
"So können alle, die in irgendeiner Form die Erfahrung
des nahen Todes gemacht haben (... ) ihre Erfahrung zum Ausgangspunkt
nehmen, um das Leben für sich und andere neu zu entdecken",
meint Ilse Aichinger in einem programmatischen Text von 1951 (Das
Erzählen in dieser Zeit), der in der vorliegenden Ausgabe
wieder zugänglich gemacht wird. Gegenüber der Sammlung
Der Gefesselte von 1953 wurde ebenfalls die Erzählung Wo
ich wohne neu in diesen Band aufgenommen.
"Gleichsam vom Rücken der Dinge und der Schicksale
her ist Ilse Aichinger an ihr Erzählen gegangen, mit einem
Mut, der träumerischer Protest, der Revolte war gegenüber
dem dingfesten Leben."
Karl Krolow
Leseprobe
Das Erzählen in dieser Zeit
Es klingt vielleicht befremdend, wenn eine Reihe von Erzählungen
mit dem Titel Rede unter dem Galgen zusammengefaßt
ist. Und es würde noch befremdender klingen, wollte man das
Erzählen an sich als ein Reden unter dem Galgen bezeichnen.
Gerade mit dem Begriff des Erzählens verbinden viele immer
wieder die Vorstellung des Behagens, des sanften Feuers, das ihre
Hände wärmt.
Oder sie sprechen vom Fluß der Erzählung und meinen
damit den Fluß, der trägt, der links und rechts freundliche
Ufer hat, an die sie, so oft sie wollen, zurückkehren können,
um ihn dann ruhig an sich vorbeigleiten zu lassen.
Und dann klagen sie, daß es mit dem Erzählen zu Ende
sei, daß es heute gar keine richtigen Geschichten mehr gäbe.
Der Vergleich mit dem Fluß ist noch immer richtig. Aber
wer heute Erzählungen mit Flüssen vergleicht, muß
an reißendere Flüsse denken, mit steileren und steinigeren
Ufern, an die keiner, der einmal den Sprung gewagt hat, so leicht
wieder zurückkommt. Und vielleicht an Grenzflüsse. Die
Ufer, die vielen bisher Sicherheit bedeutet haben, sind zur Bedrohung
geworden, und es verlockt den Fluß nicht mehr, daran zu
spielen, er drängt schneller zum Meer.
So liegt auch heute für den Erzählenden die Gefahr nicht
mehr darin, weitschweifig zu werden, sie liegt eher darin, daß
er angesichts der Bedrohung und unter dem Eindruck des Endes den
Mund nicht mehr aufbringt.
Aber haben denn die Ufer für den Fluß nicht immer schon
Grenzen bedeutet? Ist nicht jede seiner Windungen immer schon
abhängig gewesen von dem Bett, in dem er nicht ruht? Und
sind nicht alle Geschichten, die jemals erzählt wurden, von
Grenzen bestimmt gewesen und von bedrohten Grenzen..?
Autoreninfo
Ilse Aichinger
wurde am 1. November 1921 mit ihrer Zwillingsschwester Helga in
Wien geboren, als Tochter einer Ärztin und eines von Steinmetzen
und Seidenwebern abstammenden Lehrers. Volksschule und Gymnasium
in Wien. Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich im März
1938 verlor die jüdische Mutter sofort Praxis, Wohnung und
ihre Stellung als städtische Ärztin. Die Schwester konnte
im August 1939 nach England emigrieren, der Kriegsausbruch verhinderte
die geplante Ausreise der restlichen Familie: Die Großmutter
und die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 deportiert
und ermordet. Ilse Aichinger war während des Krieges in Wien
dienstverpflichtet; nach Kriegsende Beginn eines Medizinstudiums,
das sie 1947 abbricht, um den Roman Die größere
Hoffnung zu schreiben. Arbeitet im Lektorat des S. Fischer
Verlages in Wien und Frankfurt/M., anschließend an der von
Inge Scholl geleiteten Ulmer Volkshochschule, wo sie an Vorbereitung
und Gründung der "Hochschule für Gestaltung"
mitarbeitet. 1952 Preis der Gruppe 47 für die Spiegelgeschichte.
1953 Heirat mit Günter Eich, zwei Kinder, Clemens (1954)
und Mirjam (1957). Nach einigen Jahren in Oberbayern (Lenggries
und Chiemsee) Umzug nach Großgmain bei Salzburg 1963. 1972
starb Günter Elch; 1984 bis 1988 lebte Ilse Aichinger in
Frankfurt/M., seit 1988 in Wien. Wichtige Auszeichnungen: Preis
der Gruppe 47 (1952), Georg-Trakl-Preis (1979), Petrarca-Preis
(1982), Franz-Kafka-Preis (1983), Preis der Weilheimer Schülerjury
(1988), Solothurner Literaturpreis (1991), Großer Literaturpreis
der Bayerischen Akademie (1991).