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....Vertumnis, qoutqout sunt, natus iniquis
HORAT. Serm. Lib. II. Sat. v. 14
Es mag schön oder häßlich Wetter sein, meine Gewohnheit
bleibt auf jeden Fall, um fünf Uhr abends im Palais Royal
spazierenzugehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf
der Bank d'Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik,
von Liebe, von Geschmack oder Philosophie und überlasse meinen
Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee
verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder töricht. So
sieht man in der Allee de Foi unsere jungen Liederlichen einer
Kurtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen,
lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber
gleich verlassen sie diese um eine andere, necken sie sämtlich
und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen.
Wenn es gar zu kalt oder regnicht ist, flüchte ich mich in
den Café de la Régence und sehe zu meiner Unterhaltung
den Schachspielern zu. Paris ist der Ort in der Welt, und der
Café de la Régence der Ort in Paris, wo man das
Spiel am besten spielt. Da, bei Rey, versuchen sich gegeneinander
der profunde Légal, der subtile Philidor, der gründliche
Mayot. Da sieht man die bedeutendsten Züge, da hört
man die gemeinsten Reden. Denn kann man schon ein geistreicher
Mann und ein großer Schachspieler zugleich sein, wie Légal,
so kann man auch ein großer Schachspieler und albern zugleich
sein, wie Foubert und Mayot.
Eines Nachmittags war ich dort, beobachtete viel, sprach wenig
und hörte so wenig als möglich als eine der wunderlichsten
Personnagen zu mir trat, die nur jemals dieses Land hervorbrachte,
wo es doch Gott an dergleichen nicht fehlen ließ. Es ist
eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit,
von Menschenverstand und Unsinn;...
Autoreninfo
Denis Diderot, geb. am 5. Oktober 1713 in Langres, gest. am 31. Juli 1784 in Paris, war einer der großen Enzyklopädisten und französischen Aufklärer und ist als solcher einer der bedeutendsten Vertreter der europäischen Universalbildung. Seine Ideen haben in vielerlei Hinsicht das Geistesleben seiner Nachwelt geprägt. Er hat neben den 6000 Artikeln der Enzyklopädie und philosophischen Schriften, Dramen, Romane und Erzählungen geschrieben, die meisten erschienen erst posthum.Johann W. von Goethe, geb. am 28.8.1749 in Frankfurt a.M., gest. am 22.3.1832 in Weimar. Jurastudium in Leipzig und Strassburg. Lebenslanges Wirken in Weimar. Reisen zum Rhein, nach der Schweiz, Italien und Böhmen. Frühe Erfolge mit den Sturm und Drang-Stücken 'Götz' und 'Werther', Gedichte (herrliche Liebeslyrik), Epen, Dramen ('Faust', 'Tasso', 'Iphigenie' u. v. a.), Autobiographien. Zeichner und Universalgelehrter: Botanik, Morphologie, Mineralogie, Optik. Theaterleiter und Staatsmann. Freundschaft und Korrespondenz mit den grössten Dichtern, Denkern und Forschern seiner Zeit (Schiller, Humboldt, Schelling . . .). Goethe prägte den Begriff Weltliteratur, und er ist der erste und bis zum heutigen Tag herausragendste Deutsche, der zu ihren Vertretern gehört.