Produktbeschreibung
Marieluise Fleißers Ingolstädter Stücke, deren Uraufführung in den 20er Jahren zum Skandal führte, zeigen Kleinstädter, deren doppelte Moral jeden Emanzipationsprozeß abschnürt wie ein Korsett aus Gewohnheit, Aberglauben und Engstirnigkeit. Und sie zeigen, um was es der Fleißer geht: um Glück, Liebe, Angstlosigkeit und Klarheit.
Inhaltsverzeichnis
Aus dem Inhalt:
Fegefeuer in Ingolstadt
Pioniere in Ingolstadt
Leseprobe
Wohnzimmer bei Berotter, Berotter, Olga, Clementine, diese
vorerst hinter der Szene
Clementine Wo ist wieder der Schlüssel für den
Wäscheschrank? Alles wird bei uns verlegt.
Berotter Kannst du nicht antworten?
Clementine Wenn ich die Betten überziehen muß.
Berotter Die Seitz Hermine soll sich wohl in ein unüberzogenes
Bett legen?
Olga Auf der Kommode.
Berotter Hast du wieder was eigenmächtig herausgenommen?
Wie oft soll ich dir noch sagen, das ist bei uns verboten.
Olga Die Clementine gibt mir immer nichts.
Clementine kommt herein: Erst muß man schrein.
Olga, dein Hemd schaut wieder aus. Schau den Verzug an, mit dem
du herumläufst.
Olga Wenn du mir ewig nichts gibst.
Clementine Was soll die Hermine denken?
Olga Von mir aus braucht sie nicht zu kommen.
Berotter Die Frau Seitz liegt im Krankenhaus. Wo soll sie
hin damit?
Olga Ihr kennt die Hermine nicht.
Berotter Im Kloster war sie deine Freundin.
Clementine Die Reissuppe, die du nicht magst, hat sie auch
immer für dich gegessen.
Olga Der Mama wäre es nicht recht, wenn sie ins Haus
kommt.
Clementine Sie spricht von der Mama!
Berotter Das tue ich schon der Frau Seitz nicht an.
Olga Die siehst du gern.
Berotter Mit dir werde ich mich herumstreiten. Du bist
was Apartes für deinen Vater. Sie kann Latein. Sie will mir
imponieren.
Clementine Sie hat nicht einmal bei der Beerdigung geweint.
Berotter Will mitreden.
Autoreninfo
Marieluise Fleißer
geboren am 23. November 1901 in Ingolstadt und
dort am 1. Februar 1974 gestorben, wird heute mit ihren Dramen und
ihrer Prosa zwischen Brecht und Horváth gestellt. Sie studierte 1919
bei Arthur Kutscher in München Theaterwissenschaft, kam dort in fördernden Kontakt mit Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht und gehörte schließlich zur literarischen Gruppe, die Brecht um 1925 in Berlin
um sich versammelte. Im 3. Reich erhielt sie Schreibverbot. Marieluise
Fleißer lebte seit 1930 wieder in Ingolstadt.
In seiner Einleitung zu den Gesammelten Werken von Marieluise Fleißer schreibt Günther Rühle: »Es fällt nicht schwer, vom Fegefeuer her
die Fleißer in Beziehung zu Barlach oder der Lasker-Schüler zu setzen... Auch in ihren Dramen ist die erkennbare, ortbare Provinz das
Thema, sind ihre eingeschränkten und verrenkten Menschen Gegenstand der Betrachtung: überall ist der Durchblick in irrationale Hintergründe offen... Die Fleißer hatte weder persönliche noch literarische
Kontakte mit beiden. Doch gehört es zur literarischen Typologie der
zwanziger Jahre, daß an der Wupper, in Güstrow und in Ingolstadt unabhängig voneinander entstandene magische Bilder der provinziellen
Enge sichtbar werden; es sind selbständige, ihrer Funktion unbewußte
Gegenbilder gegen eine Literatur, die ihre neuen Stoffe, Personen und
Stile immer bewußter aus der Großstadt, und das heißt vor allem aus
der Hauptstadt, aus Berlin entnimmt.« Bertolt Brecht war es, der die
Uraufführung von Fegefeuer in Ingolstadt 1926 in Berlin veranlaßte,
und er war es, der Marieluise Fleißer zum Schreiben der Pioniere in Ingolstadt aufforderte. Hier fand er, so schreibt Günther Rühle, »die
kurze, pointierte, menschlich und thematisch durchgearbeitete, immer
auf eine soziale Situation verweisende, im Grundzug naiv angelegte
Szene; die Verbindung von Wirklichkeit und Poesie, das Zurücktreten
von Handlung zugunsten der sinnlichen und sozialen Definition«.
Dieser Band bringt die Neufassungen der beiden Stücke: die Neufassung von Fegefeuer in Ingolstadt wurde 1971 in Wuppertal uraufgeführt, die von Pioniere in Ingolstadt 1970 im Residenztheater München. Damals sprach die Kriti
einer »kostbaren Rarität«, von einem »einzigartigen Dokument« (Fegefeuer) und nannte Pioniere in Ingolstadt »ein packendes Stück über
Ausgeliefertsein und Not des Menschen«.