Produktbeschreibung
Dank einer Intervention Bucharins konnte Ossip Mandelstam (1891-1938), Fremdkörper in der immer stärker verwalteten und gleichgeschalteten Sowjetliteratur, 1930 eine Reise nach Georgien und Armenien antreten. Die Reise nach Armenien, in das Land der frühesten christlichen Kultur, an den Ursprung, bietet uns in raschem Wechsel die Momentaufnahmen eines gierigen Auges, das den Schock, die Anregung zum Sehen vermitteln will. Doch man merkt rasch, daß dies ein Auge mit historischem Gedächtnis, Auge eines humanistisch Gebildeten ist, Auge mit dem Anspruch, »über die Akustik zu verfügen«, Urorgan zu sein, alle Sinne zu vereinigen und zu vergeistigen.
Leseprobe
DIE Insel Sewan fällt auf durch zwei sehr würdige Architekturdenkmäler
des 7. Jahrhunderts sowie durch die Erdhütten, die unlängst
ausgestorbenen, verlausten Einsiedlern gehört haben und dicht
von Brennesseln und Disteln überwachsen, doch nicht furchteinflößender
als verwilderte Landhauskelter sind. Ich lebte da einen Monat
lang, genoß die viertausend Fuß befragende Höhe
des Seewasserspiegels und erzog mich zur Betrachtung der zwanzig
bis dreißig Grabmäler, die inmitten der Erneuerungsarbeiten
verjüngten Klostergebäude wie in einem Blumenbeet verstreut
waren. Jeden Tag, pünktlich zwischen vier und fünf Uhr,
begann der forellenreiche See zu brodeln, als sei eine große
Prise Soda hineingeworfen worden. Es war im vollen Wortsinn eine
Mesmerische Séance des Wetterumschlags, gerade so, als
hätte ein Medium auf das bis dahin ruhige Kalkwasser zuerst
ein närrisches Kräuseln, dann ein Aufbrausen wie von
Vögeln und schließlich die ungestüme Alberei des
Ladogasees losgelassen.
Dann konnte man sich das Vergnügen nicht versagen auf dem
schmalen Pfad des Strandes dreihundert Schritte abzumessen, dem
finstern Ufer von Gunej genau gegenüber.
Autoreninfo
Ossip Mandelstam wurde 1891 in Warschau geboren. Studium in Paris, Heidelberg und Petersburg. 1913 erschien sein erster Gedicht-band "Der Stein". Es folgten 1922 "Tristia" und der Sammelband "Gedichte" 1928. Eine Neuausgabe seiner Gedichte sowie der erzählen-den und essayistischen Prosa erschien 1955 im Tschechow Verlag, New York. Als Paul Celans Übertragungen der Gedichte von Ossip Mandelstam 1959 erstmals erschienen, war der Name dieses russischen Lyrikers, Erzählers und Essayisten bei uns noch weitgehend unbekannt. Inzwischen haben die beiden Erinnerungsbände seiner Frau Nadeschda Mandelstam "Das Jahrhundert der Wölfe" (1971) und "Generation ohne Tränen" (1975) viele Leser mit seiner Person und seinem Schicksal bekannt gemacht. Ossip Mandelstam wurde 1934 im Verlauf der Stalinistischen "Säuberungen" nach Sibirien deportiert, wo er 1938 in einem Lager umkam.Ralph Dutli, geb. in Schaffhausen/Schweiz, studierte Romanistik und Russisch in Zürich und Paris. Er lebte von 1982-94 in Paris. Er ist Essayist, Lyriker und Übersetzer sowie Herausgeber der zehnbändigen Ossip-Mandelstam-Gesamtausgabe. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2002 mit dem 'Stuttgarter Literaturpreis' und 2014 mit dem '"Düsseldorfer Literaturpreis'. Der Autor lebt in Heidelberg.