Produktbeschreibung
Nietzsche-Gesamtausgabe
Zusammenfassung
In diesem Band sind die Schriften aus Nietzsches letztem Schaffensjahr
1888 zusammengefaßt. Sucht Nietzsche in Der Fall Wagner
und in Nietzsche contra Wagner den gefeierten Komponisten
als décadent, als Inbegriff fehlgeschlagener Modernität
zu entlarven, so richtet sich sein philosophischer Hammer in der
Götzendämmerung gegen die lebensfeindliche Wirkung der
Vernunft seit den Tagen des Sokrates. Im Stil eines monumentalen
Pamphlets erhebt der Antichrist Anklage gegen das Christentum
als Attentat auf das starke Leben. Auf die Abrechnung mit den
Kräften der décadence folgt der von euphorisch-apodiktischem
Sendungsbewußtsein bestimmte Rückblick auf das eigene
Leben und Schaffen in Ecce homo. Der Band wird beschlossen
von einer Sammlung sämtlicher Gedichte Nietzsches.
Leseprobe
1
ICH HÖRTE gestern - werden Sie es glauben? - zum
zwanzigsten Male Bizets Meisterstück. Ich harrte wieder mit einer sanften Andacht aus, ich lief wieder nicht
davon. Dieser Sieg über meine Ungeduld überrascht mich.
Wie ein solches Werk vervollkommnet! Man wird selbst
dabei zum "Meisterstück". - Und wirklich schien ich
mir jedesmal, daß ich Carmen hörte, mehr Philosoph, ein
besserer Philosoph, als ich sonst mir scheine: so langmütig geworden, so glücklich, so indisch, so seßhaft ...
Fünf Stunden sitzen: erste Etappe der Heiligkeit! -Darf ich sagen, daß Bizets Orchesterklang fast der einzige ist, den ich noch aushalte? Jener andere Orchesterklang, der jetzt obenauf ist, der Wagnerische, brutal,
künstlich und "unschuldig" zugleich und damit zu den
drei Sinnen der modernen Seele auf einmal redend, - wie
nachteilig ist mir dieser Wagnerische Orchesterklang!
Ich heiße ihn Schirokko. Ein verdrießlicher Schweiß bricht
an mir aus. Mit meinem guten Wetter ist es vorbei.
Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt
leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. "Das Gute ist leicht, alles
Göttliche läuft auf zarten Füßen": erster Satz meiner
Ästhetik. Diese Musik ist böse, raffiniert fatalistisch: sie
bleibt dabei populär - sie hat das Raffinement einer
Rasse, nicht eines einzelnen. Sie ist reich. Sie ist präzis.
Sie baut, organisiert, wird fertig: damit macht sie den
Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur "unendlichen
Melodie". Hat man je schmerzhaftere tragische Akzente
auf der Bühne gehört? Und wie werden dieselben erreicht!
Autoreninfo
Friedrich Nietzsche (1844-1900) stammte aus einer evangelischen Pfarrersfamilie, besuchte die renommierte Landesschule in Pforta bei Naumburg, studierte in Bonn und Leipzig und wurde mit 25 Jahren Professor der klassischen Philologie in Basel. Er war ein genialer Denker, Meister der Sprache und begabter Musiker und Komponist. Sein Leben war bestimmt von problematischen Beziehungen, etwa zu Richard Wagner oder Lou Andreas-Salom‚, und endete in der bedrückenden Einsamkeit des Wahnsinns.