Produktbeschreibung
Das auf wundersame Weise sinnbelastete, christlich-mythologische Wesen »Einhorn«, das nach mittelalterlicher Vorstellung nur mit Hilfe einer Jungfrau gefangen werden kann, hat auch noch in nachmittelalterlicher Zeit Dichter und Künstler angeregt. Einer von ihnen ist Rainer Maria Rilke.»Es gibt Teppiche hier, Abelone, Wandteppiche. Ich bilde mir ein, du bist da, sechs Teppiche sinds, komm, laß uns langsam vorüber-gehen ...«So beginnt die Beschreibung Rilkes der sechs berühmten Wandteppiche »La Dame à la Licorne«. Als Sekretär Auguste Rodins wohnte Rilke um 1900 eine Zeitlang in Paris, im Hôtel Biron, dem heutigen Musée Rodin. In diesen Jahren seines Aufenthalts bereitete sich ein Buch vor, das Rilke 1904 in Rom begann und 1910 in Leipzig beendete: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Sie enthalten die Beschreibung der Wandteppiche. Doch es sind mehr als nur Beschreibungen; die aufgezeichneten An-Sichten werden zugleich zu Einsichten in das Wesen der Frau und ihrer Beziehung zum Mann in sich verändernden Zeiten.
Leseprobe
Nun sind auch die Teppiche der Dame à la Licorne nicht
mehr in dem alten Schloß von Boussac. Die Zeit ist da, wo
alles aus den Häusern fortkommt, sie können nichts mehr
behalten. Die Gefahr ist sicherer geworden als die Sicherheit.
Niemand aus dem Geschlecht der Delle Viste geht neben einem her
und hat das im Blut. Sie sind alte vorbei. Niemand spricht deinen
Namen aus, Pierre d'Aubusson, großer Großmeister aus
uraltem Hause, auf dessen Willen hin vielleicht diese Bilder gewebt
wurden, die alles preisen und nichts preisgeben. (Ach, daß
die Dichter je anders von Frauen geschrieben haben, wörtlicher,
wie sie meinten. Es ist sicher, wir durften nichts wissen als
das.) Nun kommt man zufällig davor unter Zufälligen
und erschrickt fast, nicht geladen zu sein. Aber da sind andere
und gehen vorüber, wenn es auch nie viele sind. Die jungen
Leute halten sich kaum auf, es sei denn, daß das irgendwie
in ihr Fach gehört, diese Dinge einmal gesehen zu haben,
auf die oder jene bestimmte Eigenschaft hin.
Junge Mädchen allerdings findet man zuweilen davor.
Autoreninfo
Rainer M. Rilke (1875-1926), der Prager Beamtensohn, wurde nach einer erzwungenen Militärerziehung 1896 Student, zuerst in Prag, dann in München und Berlin, weniger studierend als dichtend. Die kurze Ehe mit der Bildhauerin Clara Westhoff in Worpswede löste er 1902 auf. Er bereiste darauf Italien, Skandinavien und Frankreich. In Paris schloß er Bekanntschaft mit Rodin und wurde dessen Privatsekretär. Bereits nach acht Monaten kam es zum Bruch. Es folgten unstete Jahre des Reisens mit Stationen in verschiedenen Städten Europas. Nach seinem Entschluß zur Berufslosigkeit und zu einem reinen Dichterdasein war Rilke zu jedem Verzicht bereit, wenn es dem Werk galt. Er opferte sein Leben seiner Kunst und gewann Unsterblichkeit, indem er unerreichte Sprach- und Kunstwerke schuf.
Im Ersten Weltkrieg war er zur österreichischen Armee eingezogen, wurde aber aufgrund seiner kränklichen Konstitution in das Wiener Kriegsarchiv versetzt. Rilke starb nach langer Krankheit in Val Mont bei Montreux.