Produktbeschreibung
Dieses Buch erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Verführung. Ein Mann wird in seinem Arbeitszimmer von einer Frau angerufen, die er nie gesehen hat. Sie ist nur eine Stimme für ihn, die scheu und leise zu sprechen beginnt, so sanft wie der Schneefall, den der Mann vor seinem Fenster sieht. Zuerst ist er nur neugierig, doch allmählich gerät er in einen fast hypnotischen Bann. Die Verführung wird zu einem Kampf, in dem jeder den anderen zu seinem Objekt machen will, ein Kampf auch, in dem zwei Welten einander gegenüberstehen: die bürgerliche Existenz des Mannes und das verborgene Leben der Frau, die das ganz Andere repräsentiert - zugleich Wunschtraum und Gefahr, Utopie und fixe Idee. Die Geschichte dieser Begegnung, die sich zu einer radikalen Herausforderung steigert, ist vor allem ein Buch über die Macht der Phantasie. In ihm zeigt sich der alte Mythos vom unwiderstehlichen Gesang der Sirenen als eine lebendige seelische Wahrheit.Dieter Wellershoff hat das Buch eine Novelle genannt, nicht nur weil es entsprechend einer klassischen Definition von einer»unerhörten Begebenheit« handelt, sondern auch wegen der Geschlossenheit seiner Handlung, die ein einziger, unaufhaltsam fortschreitender Prozeß ist - Abenteuer der Erfahrung und Analyse zugleich.
Leseprobe
Das Rufen
Der Anruf kam vormittags, als Elsheimer in seinem Arbeitszimmer
saß und gedankenlos mit seinem Kugelschreiber verschlungene,
unregelmäßige Ornamente auf seinen Schreibblock zeichnete.
Er war lustlos seit Tagen, fühlte sich auf seinem Stuhl
auch körperlich verschwommen und träge, sein Leben war
in den Bewegungen seiner Hand, die den schwarzen Kugelschreiber
über das weiße Blatt führte, das allmählich
von dem Gewirr der Linien bedeckt wurde. Es waren Ranken, die
er zeichnete, Girlanden in ungleichen Bögen, auch Stengel
oder Kolben. Manche Formen, die an dicke Blüten oder Fruchtknoten
erinnerten, füllte er mit dichten Schraffuren aus. Und je
schwärzer das Blatt wurde, je mehr es überwuchert wurde
von den sich gegenseitig erstickenden und zerstörenden Ornamenten,
um so stärker wurde sein Widerwillen gegen sich selbst.
Ich muß arbeiten, dachte er, sah aber weiter dem nervösen
Eifer seiner Hand zu, die über die Umrisse der Ornamente
hinwegstrichelte, dann die Umrisse ausbeulte und verdeckte und
mit einem schmierigen Schwarz füllte.
Er war dankbar, als das Telefon klingelte. Doch zugleich aufgeschreckt,
als sei er bei einer verbotenen Tätigkeit erwischt worden.
Gewöhnlich war das Telefon umgeschaltet nach vorne in die
Diele, die an die Wohnräume grenzte, so daß Elsheimer
in seinem Arbeitszimmer, wo der zweite Apparat stand, nicht gestört
werden konnte.
Autoreninfo
Dieter Wellershoff, 1925 in Neuss geboren, schrieb Romane, Erzählungen und Essays, Filmdrehbücher und Hörspiele. Heinrich-Böll-Preis 1988. Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2001, Joseph-Breitbach-Preis der Akademie der Wissenschaften und Literatur 2001. Der Autor lebt in Köln.