Produktbeschreibung
London, 1914: Fürst Orlow verhandelt im Auftrag des Zaren mit den Briten
über eine Militärallianz gegen Deutschland. Felix Kschessinsky, jahrelang
in zaristischen Lagern gefangen, weiß von der Mission. Er beschließt: Orlow
muß sterben.
Leseprobe
Es war ein gemütlicher Sonntagnachmittag, wie Walden ihn
liebte. Er stand am offenen Fenster und blickte auf den Park
hinaus. Von der breiten Rasenfläche hoben sich einige große
Bäume ab: eine schottische Fichte, ein paar mächtige
Eichen, mehrere Kastanienbäume und eine Weide mit Zweigen
wie Mädchenlocken. Die Sonne stand hoch, und die Bäume
warfen dunkle, kühle Schatten. Die Vögel schwiegen,
aber man hörte das Summen zufriedener Bienen an den Blumenranken
neben dem Fenster. Auch im Haus war es still. Der größte
Teil der Dienerschaft hatte an diesem Nachmittag frei. Die einzigen
Wochenendgäste waren Waldens Bruder George, Georges Frau
Clarissa und ihre Kinder. George war spazierengegangen, Clarissa
hatte sich hingelegt, und die Kinder waren außer Sicht.
Walden fühlte sich behaglich. Natürlich hatte er zum
Kirchgang einen Gehrock getragen, und in einigen Stunden würde
er sich seinen Frack zum Abendessen anziehen, aber im Augenblick
hatte er es sich bequem gemacht und trug einen Tweedanzug mit
einem weichen Hemd. Wenn Lydia heute Abend Klavier spielt, dachte
er, war es ein vollkommener Tag.
Er wandte sich an seine Frau. »Wirst du nach dem Abendessen
spielen?«
Lydia lächelte. »Wenn du willst.«
Walden hörte ein Geräusch und trat wie der ins Fenster.
Am anderen Ende der Einfahrt, etwa eine Viertelmeile entfernt,
tauchte ein Wagen auf. Walden verspürte eine leichte Gereiztheit,
wie jene Andeutung von Schmerz in seinem rechten Bein kurz vor
einem Regenguß. Warum sollte mich ein Wagen stören,
fragte er sich. Er hatte nichts gegen Autos, er besaß selbst
einen Lanchester, den er regelmäßig für Fahrten
nach London benutzte. Allerdings mußte er zugeben, daß
im Sommer die Kraftwagen hier im Dorf ziemlich lästig waren,
wenn sie auf den ungeteerten Straßen hohe Staubwolken aufwirbelten.
Er hatte mit dem Gedanken gespielt, ein paar hundert Meter der
Straße auf seine Kosten asphaltieren zu lassen, und er hätte
es auch wohlgetan, aber seit 1909, als Lloyd George den Straßenbau
übernommen hatte, war er nicht mehr dafür verantwortlich
- und das war, wie er feststellte, der eigentliche Grund seiner
Gereiztheit. Es war wieder einmal typisch für die Liberalen,
von ihm Geld einzukassieren für etwas, was er ohnehin getan
hätte, und es dann zu vernachlässigen. Wahrscheinlich
werde ich die Straße schließlich doch selbst pflastern
lassen müssen, überlegte er; es ist nur ärgerlich,
zweimal dafür bezahlen zu müssen.
Der Wagen bog in den mit Kies bestreuten Vorhof ein und hielt
mit lärmendem Motor am Südeingang. Auspuffgase drangen
durch das geöffnete Fenster, und Walden hielt den Atem an.
Der Fahrer stieg aus. Er trug einen Helm, eine Staubbrille und
einen schweren Chauffeurmantel. Nachdem er den Schlag geöffnet
hatte, stieg ein untersetzter Mann mit schwarzem Mantel und schwarzem
Filzhut aus dem Wagen. Walden erkannte ihn, und sein Gesicht
verfinsterte sich. Der friedliche Sommernachmittag war vorbei.
»Es ist Winston Churchill«, sagte er.
»Wie peinlich«, bemerkte Lydia.
Dieser Mann ließ sich einfach nicht abweisen. Am Donnerstag
hatte er einen Brief geschickt, der von Walden ignoriert wurde.
Am Freitag hatte er in Waldens Haus in London vorgesprochen und
war mit dem Bescheid abgewiesen worden, der Earl sei abwesend.
Und jetzt war er ausgerechnet am Sonntag die ganze Strecke bis
nach Norfolk gefahren.
Autoreninfo
Ken Follett, 1949 in Wales geboren, von Beruf Journalist, wurde mit seinem Thriller "Die Nadel" weltberühmt. Brillante Erzählkunst verbindet sich in seinen Büchern mit fundierter Sachkenntnis.